Vorbemerkung: Die Termine sind um 15:00 und 18:00 MEZ.
Hallo,
denen, die die Ziele und Aktivitäten der Diversity-Vorkämpfer belächeln, mögen bitte bedenken:
Der Vorstandsbeschluss, einen Arbeitskreis einzusetzen [1], verleiht dem Ganzen erheblich mehr Bedeutung und Einfluss als es eine Reihe an Diskussionsrunden auf Konferenz oder unabhängige Initiativen in der OSM-Community (Geochicas usw.) hätten. Es wird doch erwartet, dass das, was das Komitee vorschlägt, am Ende auch realisiert wird, oder? Genau aus dem Grund ist es IMHO falsch, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis ein neues Trendthema kommt. Wenn der Arbeitskreis nur aus derselben Clique besteht, die schon vorher gewisse Maßnahmen (z.B. Verhaltensregeln) gefordert hat, werden diese Forderungen die Empfehlung des Arbeitskreis sein. Es spielt dann keine Rolle, ob die angestrebten Ziele dem OSM-Projekt nützen, die Forderungen berechtigt sind, das Problem tatsächlich so existiert und die Maßnahmen angemessen, zielführend und nicht arm an Nebenwirkungen sind.
Daher sollte jeder mit mindestens mittelmäßigen Englischkenntnissen sich fragen, ob es nicht doch sinnvoll wäre, sich zu beteiligen. Ich selbst habe schon genug Posten, die meine Zeit binden. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn andere sich an dem Arbeitskreis beteiligen und darauf pochen, dass Rationalität, nicht Ideologie entscheidet.
Der Arbeitskreis sollte, bevor er sich mit Fördermaßnahmen beschäftigt, bei den Grundlagen anfangen und eine ggf. umfassenden Grundlagenermittlung durchführen. Literaturrecherche – es gibt mittlerweile einige Paper über OSM – ist der Anfang, aber neue Erhebungen wird sich wahrscheinlich nicht vermeiden lassen. Die Frage ist nämlich: Welche Minderheiten gibt es in OSM? Sind sie auch in OSM in der Minderheit? Die erste Aktivität des Arbeitskreis könnte eine Art freiwillige Volkszählung der OSMF sein, in der in zahlreichen Sprachen über die gesamte OSM-Community hinweg demographische Daten (Altersverteilung, Geschlecht, Bildungsstand) und die Herkunft erhoben werden. Die Kunst ist, die richtigen Fragen zu stellen und eine ordentliche Beteiligungsquote zu erzielen. Die OSMF kann z.B. mit Bannern auf www.openstreetmap.org eine bessere Beteiligung als diverse Umfragen von Akademikern in den letzten Jahren zu erzielen.
Nach der Erhebung stellt sich die Frage, bei welche Gruppen aus statistischer Perspektive Förderbedarf besteht. Wie hoch ist der Anteil dieser Gruppe verglichen mit der Bevölkerung in der Region? Oder hat eine Gruppe A, die einen Anteil von n an der Gesamtbevölkerung hat, in OSM einen Anteil größer als n?
Nach der Auswahl einer oder mehrere Gruppen, die in OSM nicht ausreichend repräsentiert sind, stellen sich die Fragen:
Welchen Vorteil hat es, wenn der Anteil der Gruppe A an der Community sich dem der Gesamtbevölkerung annähert bzw. ihr Anteil in OSM steigt? Was erhofft man sich davon? Welche Vorteile hat es für den OSM-Datenbestand? Welche Vorteile hat es für das OpenStreetMap-Projekt? Welche Nachteile hat ein höher Anteil der Gruppe am Projekt (ja, das kann es geben)? Hier gilt es aufzupassen, keine Thesen und Theorien, sondern Beweise als Begründung zu verwenden. Dass Frauen Frauensachen mappen, ist eine These, die sich u.a. in einem Paper von Monica Stephens [2] findet, zu der mir jedoch kein Beweis bekannt ist. Das Paper The Gendered Geography of Contributions to OpenStreetMap von Das et.al. [3] versucht das zwar zu beweisen, scheitert aber daran und beweist eher das Gegenteil. Aufgrund der geringen Anzahl an Frauen hat es jedoch eine beschränkte Aussagekraft.
Der bis hierhin skizzierte Teil ist nicht mal schnell gemacht. Wenn man ihn ordentlich angeht, dauert das sicherlich weit über ein Jahr! Ich denke aber, dass er wichtig ist, um am Ende des Ganzen die Gemeinschaft von Bedarf und Zweckmäßigkeit zu überzeugen. Wenn man nämlich direkt mit dem Planen von Maßnahmen (Regeln, Kampagnen, Quoten etc.) nachdenkt und diese ohne ein festes Fundament aus Argumenten und Beweisen empfiehlt, wird das Community in einen epischem Streit stürzen, lähmen und spalten können!
Nicht vergessen werden sollte, ob die Werte, die ein Diversity-Arbeitskreis durchsetzen möchte, auch Werte sind, die global in der OSM-Community so akzeptiert werden sollten. Akzeptanz für Maßnahmen bedingt IMHO gemeinsame Grundwerte. Welche das sind, ist eine interessante und untersuchungswürdige Frage. Oder wäre es sinnvoller, die Maßnahmen auf kulturell einheitlicheren Gruppen anzuwenden, z.B. länderspezifische Verhaltenskodexe [4]?
Viele Grüße
Michael
[1] Und wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis …
[2] zu finden u.a. in Stephens, M. 2013: Gender and the GeoWeb: divisions in the production of user-generated cartographic information. In: GeoJornal, volume 78, issue 6
[3] Das, M. et.al. 2019: The Gendered Geography of Contributions to OpenStreetMap: Complexities in Self-Focus Bias. In: Proceedings of the 2019 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems
[4] Diese gibt es in ungeschriebener Form, man nennt sie Sitten oder auch Forenregeln.